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"Letzter Film"

Paulus Hochgatter sprach zur Eröffnung der Diagonale 2001

(Paulus Hochgatter)
"Der Standard"-online, 20.03.2001


Die - hier für den STANDARD gekürzte - Rede wurde am Montag Abend in Graz anlässlich der Eröffnung der Diagonale 2001 gehalten.

Paulus Hochgatterer veröffentlichte zuletzt den Roman Caretta, Caretta.


"Ich werde versuchen, über Dissoziation zu sprechen, über Kugelmenschen und über den Letzten Film. Ich wähle die sicherste Variante und beginne bei Platon. Während des Gastmahles im Haus des Agathon lässt Platon den Komödiendichter Aristophanes die berühmte Fabel von der ursprünglichen Verfassung des Menschen erzählen: Neben Männern und Frauen habe es einst Wesen eines dritten Geschlechtes gegeben, Ausgeburten des Mondes und, in Anlehnung an ihn, kugelförmig von Gestalt. Jedes der Wesen habe vier Arme gehabt, vier Beine, vier Ohren und zwei Gesichter. Die Wesen hätten sich radschlagend fortbewegt, unter Verwendung aller acht Gliedmaßen. An Kraft und Stärke waren sie gewaltig, erzählt Aristophanes, und sie hegten auch große Gedanken. Diese Kombination aus Kraft und Stärke auf der einen, großen Gedanken auf der anderen Seite bereitete dem zur Paranoia neigenden Zeus Sorgen. Also beschloss er, einen dezidiert dissoziativen Akt zu setzen, und schnitt die Globen mitten entzwei. Apoll wurde beauftragt, die Haut
zusammenzuziehen und den Nabel zu formen, kurz, die Sache plastisch-chirurgisch zu finalisieren. Was folgte, ahnt man: Die Hälften sehnten sich aus ihrer Vereinzelung vehement zurück in die ursprüngliche
Verfassung. Hatten sie einander gefunden, ließen sie, obwohl klar war, dass ein Wiederverwachsen nicht in Frage kam, nicht mehr voneinander ab. Zeus, der auf genitaler Ebene durchaus empathisch war, nahm die
Schamteile der beiden Dissoziationsopfer und verpflanzte sie so, dass Kopulationsfähigkeit hergestellt wurde. Damit war die Rezeptionskarriere der Geschichte vorgezeichnet.

Im erotischen Überschwang wurde Brisantes übersehen: Der Schnitt war nicht primär einer zwischen männlich und weiblich, sondern einer zwischen Kraft und Stärke, also der Macht und dem, was Aristophanes "große Gedanken" nennt.

Letzteres war seit jeher das Wissen, dass der Mensch in eine Herkunft hineingeboren wird, dass er ein dauerkompensierendes Mängelwesen ist, ein Mängelwesen, das - größter Mangel - letzten Endes unweigerlich stirbt. Der Schnitt des Zeus war somit einer zwischen jenen, die Macht haben, und jenen, die "große Gedanken" zu haben imstande sind, also, seit jeher, den Vertretern von Theologie, Philosophie und Kunst.

Den Machthabern hat die Sache klarerweise nie so recht gefallen - weniger dass sie sich selbst mit größeren Gedanken schwer tun, sondern vielmehr, dass da andere sind, die ihnen ihre Relativität vor Augen führen. Gleichwohl wurde von jenen Mächtigen, die sich selbst durch Training ihrer Kritikfähigkeit vor der Herrschaftsverblödung bewahren konnten, darauf geachtet, dass sie zu jenen, die diese unangenehmen
Wahrworte sprachen, in Sichtweite blieben. Von Wiederverschmelzung kann sowieso keine Rede sein, auch wenn zugegebenermaßen manche Kunst/Macht-Kombination gedankenexperimentell eines gewissen Charmes nicht entbehrt.

Morak/Menasse, um die Alliteration als unverdächtiges Auswahlkriterium heranzuziehen, wild radschlagend unterwegs in Richtung Arlberg; Schlingensief/Schüssel, ein unverhoffter Wonnemond mit vier Ohren; und
auch für Haslinger oder Haneke böten sich wohl anlautmäßig entsprechende Halbfiguren an - sie fallen mir nur momentan nicht ein.

Die Menschen sterben, das ist das Skandalon schlechthin, und der Skandal wird nicht geringer dadurch, dass die Menschen, unmittelbar bevor sie sterben, offenbar genötigt sind, sich einen Film anzuschauen. Wer will das schon in so einem Moment?

Alles beginnt anscheinend damit, dass der Sterbling sich über Schultern, Hals und Scheitel aus seiner physischen Erdgebundenheit löst und sich nach oben zu bewegen beginnt. Er schaut hinab auf heulende Angehörige, auf reanimierende Notärzte und auf das dissoziierte Fragment seiner selbst, das er dort unten liegen gelassen hat.

Der Letzte Film, den es nun anzuschauen gilt, ist ein psychoanalytisches Phänomen, wie ja angeblich das ganze Leben. Der Letzte Film wird dort zum Argument der katholischen Jenseitsängstigungslogik, wo er angeblich aus all jenen Szenen besteht, in denen man sich im Leben wie ein Schweinehund benommen hat. Der Letzte Film wird schließlich dort zum wehr-losen Opfer der Transzendentalromatik, wo er am Ende in weißes Licht mit angeschlossenem Glücksgefühl übergeht.

Zum Gegenstand der Neurowissenschaften ist der Letzte Film noch nicht geworden, und ich bin auch nicht sicher, ob ich mir das wünschen soll. Ich erhalte mir viel lieber die Vorstellung von einem Filmteam, das da
an einem gemütlichen Platz in meinem Kopf sitzt, Zeit meines Lebens, dreht, beleuchtet, schneidet, das eine archiviert, das andere verwirft

Dürfte ich mir etwas wünschen, so wäre es die eine Einstellung, auf der rechts hinten die blassgelbe westseitige Außenwand des Bahnhofsgasthauses mit dem roten Schriftzug LICHTSPIELE zu sehen ist,
links, mehr im Vordergrund, die Ortstafel jenes Ortes, in dem ich aufgewachsen bin: Blindenmarkt. Der allererste Film, den ich im Bahnhofsgasthauskino von Blindenmarkt und in meinem Leben überhaupt sah, war Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft. Die Aporie dieses Filmtitels scheint dem Thema halbwegs gerecht zu werden.

Der Letzte Film hat übrigens allen anderen Filmen gegenüber zwei entscheidende Vorteile: Außer meistens das Leben kostet er nichts - erstens; und zweitens wird derjenige, der ihn dreht und produziert, danach garantiert für keinen weiteren Film eine Subvention haben wollen."

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. 3. 2001)

updated: 20.03.2001 by werner
 
 
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